zurück

Grenzgeschichte erleben

20.08.24 Geschichten des Doppeldorfes Böckwitz-Zicherie

An diesem Tag rollten Tränen. Die Geschichten, die die fünf ehrenamtlich

tätigen Mitglieder des Museumsvereins des Grenzmuseums Böckwitz-Zicherie

am Samstag, 17.08.2024 erzählten, gingen den 80 Landfrauen wahrlich unter

die Haut.

Als Renate Bartels Eindrücke aus ihrem Leben im 500 m – Schutzstreifen in

Böckwitz an der Grenze DDR/BRD mit dem Satz „Keiner konnte sich aussuchen, wo

man geboren wurde“ vermittelte, wurde vielen bewusst, wie unerbittlich das Leben in

der Diktatur der DDR in das private und gesellschaftliche Leben der Böckwitzer

eingegriffen hatte.

Mit dieser besonderen Veranstaltung des Kreisverbandes der LandFrauen Gifhorn

hatte er ein Thema in das Bewusstsein der Anwesenden gehoben, das leicht

vergessen wird: Demokratie ist ein erkämpftes Gut, für dessen Erhalt jeder Einsatz

wichtig ist. „Die Grenzöffnung hat gezeigt, wie wertvoll Freiheit, Rechtsstaatlichkeit

und Beteiligung der Bürger am politischen Prozess sind“ betonte Kreisvorsitzende

Petra Lührs. Sie begrüßte damit emotional und eindringlich die Gäste und hob

hervor, dass gerade auch Landfrauen in unseren Dörfern dazu beitragen würden,

dass Demokratie gelebt wird. Sie seien Botschafterinnen der Erinnerungskultur und

diese wachzuhalten, sei eine wichtige Aufgabe.

Mit von der Partie war auch Landrat Tobias Heilmann, der zwar bei der Grenzöffnung

1989 erst 15 Jahre alt war, dennoch als Kind und Jugendlicher Grenzkontrollen bei

der Einreise in die DDR erlebte, in denen sich etliche Zuhörerinnen wiedererkannten

„Mucksmäuschenstill hatten wir im Auto zu sein – sonst gab‘s Ärger mit Vater!“

Und dann wurde es wirklich emotional – mit Zeitzeugenberichten, die keine kalt

ließen. Ulrich Lange hatte mit seinem Team eine Tour durch fünf Stationen

vorbereitet, bei denen jeder der Fünf die eigene, erlebte Geschichte beitrug. Dabei

hob Lange zunächst hervor „ Unser Ziel ist, wo wollen wir gemeinsam hin, nicht wer

ist wer. Das verbindet uns und macht unsere Vereinsarbeit besonders“.

Renate Bartels hat 23 Jahre bis zur Grenzöffnung im Schutzstreifen gelebt. In dieser

500 m breiten „Schutzzone“ waren sie doppelt eingesperrt, Besuch auch aus der

DDR konnte nur mit Passierschein kommen, selbst Fotografieren war nicht erlaubt.

Die Geschwister hielten das eingeschränkte Leben nicht aus, sie zogen weg und die

große Familie ist daran nahezu zerbrochen, weil keine Kontakte gehalten werden

konnten: „Die Diktatur hat unseren Lebensweg bestimmt – sie hat tiefe Spuren

hinterlassen, die immer noch schmerzen“, sagte sie.

Advent wurde, wenn der weihnachtlich geschmückte Baum aus Zicherie als

westdeutscher Gruß über die Grenze leuchtete. Das erwärmte die Herzen und

schaffte eine Verbindung von hüben nach drüben.

Erst heute beantragt Renate Bartels Einsicht in ihre Stasi Akte, um Antworten auf ihr

vorheriges Leben zu erhalten, aus einem persönlichen Minenfeld, das sie bisher

Angst hatte, zu betreten.

 

Inge Jacobs wurde in Böckwitz auf einem Bauernhof geboren und 1952 mit ihren

Eltern als Einjährige innerhalb von 24 Stunden im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ *

vertrieben und nachfolgend enteignet. Sie wurden auf einen LKW geladen und

abtransportiert. Dann erfolgte der Umstieg der ca. 80 Menschen in einen Sonderzug

ins Nirgendwo. Morgens wurden sie in Nordsachsen auf Gastfamilien aufgeteilt, der

Vater musste danach in Bitterfeld im Chemiekombinat arbeiten. Letztlich gelang über

Ostberlin die Flucht in Westen und sie durften sich später in Zicherie nah der alten

Heimat niederlassen. Nun teilte das Doppeldorf eine unüberwindliche Bretterwand,

die später durch eine Mauer ersetzt wurde. Aber sie waren in der freien Welt.

Marianne Berlinecke führte im Museum mit dem Fokus auf die Themen Grenze,

Grenzgeschichten, Grünes Band und Drömling. Eine Kunst-Installation u.a. mit der

eindrucksvollen Fotografie der Böckwitz-Zicherier Grenze steht hier im Mittelpunkt:

Darauf zu sehen ist das Brautpaar Dreher, wie es von der Zicherier Seite nach

Böckwitz schaut. Das Bild zeigt an einem persönlichen Schicksal die Gewalt der

Grenze, denn dort steht die Brautmutter, die nicht an der Hochzeit teilnehmen kann,

denn dazwischen verläuft die trennende Grenze, die damals noch zu Teilen aus

Stacheldraht besteht.

Ulrich Lange berichtete über seine Grenzerfahrungen auf der Europawiese, die

früher kein Idyll, sondern Sicht- und Schussfeld der Grenzer war, ausgestattet mit

einem Schießbefehl ab 1952. Die Europawiese erinnert an die Teilung Europas und

die Überwindung dieser tödlichen Grenze 1989.

Mit der länderübergreifenden Bus-Landeslinie 300 ist nun eine Verbindung ohne

Umsteigen zwischen Salzwedel und Wolfsburg möglich.

Der Clou: Natürlich zählt auch die Böckwitzer Europawiese zu den Haltestellen.

Rolf Bartels zeigte die Grenzanlagen, deren Reste außerhalb des Dorfes aufgebaut

waren. Eindrücklich berichtete er vom Leben der Grenzsoldaten, die hier eingesetzt

waren. Er ließ die Geschichten lebendig werden, die die Grausamkeit und

Menschenverachtung des Systems an dieser innerdeutschen Grenze prägten.

Für alle Teilnehmerinnen endete diese unvergessliche Tour mit einem geselligen

Abschluss an der Museumsscheune, bei dem die Ehegatten der alten und der

derzeitigen Kreisvorsitzenden, Hans-Dieter Dralle und Friedrich Lührs, sich nicht

nehmen ließen, als Grillmeister zu fungieren.

Weitere Infos über Instagram unter #Grenzmuseum_Boeckwitz oder im Internet unter

https://www.grenz-museum.de/

 

* Im Mai 1952 wurde ein rund 5 km breiter Streifen an der innerdeutschen Grenze abgeriegelt und zur Sicherheitszone deklariert.

Mit der Aktion "Ungeziefer" startete das Ministerium für Staatssicherheit die Zwangsaussiedlung tausender Bewohnerinnen und

Bewohner des Grenzgebietes. Das MfS leitete die Aktion und war zusammen mit der Volkspolizei maßgeblich an deren

Durchführung beteiligt. Quelle: https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/aktion-ungeziefer/